Long Time no Write

Ich weiß nicht mehr, wie man schreibt. Und das tut weh. Einst konnte ich Sätze an meinem inneren Auge vorbeiziehen sehen; Sätze, die von mehr als nur mir erzählten, die aus mehr als nur dem mindesten Wortschatz bestanden. Heute ist es schon eine Herausforderung, keine Anglizismen in Ermangelung eines deutschen Synonyms zu benutzen. Ich weiß, dass die Schuld daran einzig bei mir liegt. Bei mir und meinem Unvermögen, der digitalen Welt länger als ein paar Minuten zu widerstehen. Alles ist flach geworden, zweidimensional. Die Nachrichten, die Medien, meine Gedankenwelt. Mein Bewusstsein ist ein Raum und dieser Raum schrumpft. Kaum zwei Dinge passen zur selben Zeit hinein, vieles ist außerhalb der unmittelbaren Reichweite im Schatten verschwunden. Dieser Schatten ist von einer wattierten Mauer umgeben, die das Erreichen von Erinnerungen, von einem Sinn, von einer Persönlichkeit so anstrengend macht, dass der Griff zum digitalen Helferlein inzwischen ein tief einprogrammierter Reflex ist. Das Wissen um diesen Umstand befeuert den Schmerz, den Druck in der Brust, der nur verschwindet, wenn ich das Gefühl habe, etwas Reales geschafft zu haben. Doch der Weg zum Schaffen ist zu einem Trampelpfad verkommen, der von Zweigen der ihn umgebenden Bäume immer mehr zu einem Kampf um Kontrolle wird. Kontrolle, die ich schon lange nicht mehr inne habe. Ich sehe Menschen, die ihr Leben offenbar unter Kontrolle haben, auch wenn es ihnen nicht so vorkommt. Die morgens aufstehen, ohne dafür einen präzisen Grund haben zu müssen. Die das schaffen, was zu schaffen ist, ohne jedes. einzelne. mal an ihre Grenzen zu geraten. Die mit sich selbst zufrieden sind, weil sie nicht auf die Idee kommen, diese Frage zu stellen und zum Mittelpunkt ihres Denkens zu machen. Die sich nicht in unreale Welten flüchten müssen, um dem Druck zu entkommen. Ich kann den Druck nicht mehr aushalten. Ich weiß, dass er aus mir kommt. Doch ich weiß auch, dass er eine Daseinsberechtigung hat. Es herrscht im Allgemeinen die Überzeugung, Menschen mit einem solchen Druck seien besonders produktiv, würden „zu viel“ tun, sich „kaputt arbeiten“. Doch er kann auch das Gegenteil bewirken; er kann lähmen. Denn das nährt ihn. Je stärker der Druck wird, etwas zu tun, desto weniger mache ich tatsächlich, desto mehr wächst er, desto tiefer vergrabe ich meinen Körper im Bett und meine Augen im Internet. Das Internet. Es war ein Segen, als ich es entdeckte, lernte, mich in ihm zu bewegen. Welche Wunder es bereit hielt. Menschen, die verstanden, die Konversation betrieben, mit denen es Spaß machte bis tief in die Nacht herumzualbern. Und dann wurde es zu groß. Und ich hänge an ihm wie eine Süchtige. Das bin ich. Süchtig. Nach der Schnelligkeit, der Verfügbarkeit, dem Filtern bis auf zweidimensionale Nachrichten. Ich muss davon wegkommen, sonst kann es nicht besser werden. Ich muss mich unter Kontrolle bekommen. Kontrolle. Was für ein Wort. So groß und wunderschön und unerreichbar. Zumindest fürs Erste.

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Ich saß heute in einem Theaterstück. Was für ein Stück und von wem ist in diesem Zusammenhang egal. Es gab eine erste Hälfte, eine Pause, eine zweite Hälfte und einen Abschluss. Vorher, in der Pause und danach betrieb man Konversation, teilte Erwartungen und sandte Meinungen aus. Zum Abschluss des Stückes applaudierte man – lange – ließ einzelne Gruppen auf die Bühne treten und teilte ihnen durch an- oder abschwellendes Klatschen mit, wie sie einem gefallen hatten. Zuletzt traten die beiden Hauptdarstellerinnen nach vorne, sie erhielten den lautesten Beifall, die Hände drückten nicht genug aus, auch Stimmen wurden zuhilfe genommen. Die beiden strahlten, sie erhielten den gerechten Lohn für ihre wochenlange Arbeit, ließen sich von frenetischen Geräuschen tragen, schwebten vor Glück. Glaube ich.

Ich saß auf meinem Platz, Tränen in den Augen. So hatte man mich nie angesehen, belohnt. Nie hatte man etwas Beeindruckendes in mir sehen können. Ich bin in fast allem mittelmäßig. Ich kann sprechen, doch verhaspelt sich meine Zunge viel zu oft. Ich kann singen, aber nur in der zweiten Stimme im Hintergrund. Ich kann zeichnen, aber nur, was ich vor mir sehe. Ich kann schnell lesen, aber mir vieles nicht merken. Ich kann Klavier spielen, doch weder improvisieren noch Stücke auswendig lernen. Ich kann mich mit Menschen unterhalten, aber nur schwer eine wirkliche Beziehung aufbauen.

Richtig gut war ich eigentlich nur in der Schule. Zumindest sagt das mein Abschlusszeugnis. Mathe und Physik und Biologie sehr gut. Das steht da. Darauf könnte ich nun stolz sein. Ich will es auch. Aber Stolz ist eigenwillig. Er entsteht nicht in einem selbst, er muss von außen genährt werden. Und wer sagt einem schon, dass man auf ein gutes Abitur stolz sein kann. Kaum jemand. Denn das war ja klar. Die ist halt schlau und hatte keine Mühe damit. War ja klar, dass die die Beste war. Kein Wunder, dass sie vielleicht Medizin studieren will, geht ja gar nicht anders bei dem Schnitt. Klar, die wird schon alles schaffen, die muss sich nie bei etwas anstrengen.

Was wäre, wenn ich sage: ‚Falsch.‘, Mathe rutscht mir gut durch die Windungen, doch davon abgesehen bin ich in vielem so viel unbeholfener als andere meines Alters. Das ist ja nur natürlich, niemand kann in allem gut sein, wo bliebe die Gerechtigkeit.

Doch jeder hat ein Recht auf Anerkennung für das, was er hat. Ich kann die Menschen nicht mit Musik oder Tanz oder wunderschönen Bildern begeistern. Ich kann nur Matheaufgaben lösen und von Epigenetik schwärmen.

Aber dafür kann man wohl leider keinen Applaus erwarten. Keinen glückerfüllten Abgang.

inventur (unvollständig)

1 normales Leben, 1 Mann, 3 gute Freunde, ungefähr 15 sonstige Freunde, 32 Klassenmenschen, 1 Mutter, 1 Vater, 1 Bruder, 2 Großmütter, 1 Großvater, 1 Lea, 1 Grübchen, 1 Mema, 1 Käptn, 1 Sani, 1 Ziege, 1 Vampir, 1 Sanftmut, 1 Eule, 1 Raubvögelin, 1 Kaete, 1 Lola, 1 Kardinal, 1 Koellesterin in Aussicht, 1 vierzigjähriger Teddy, 1 vom Mann entwendeter Pullover, 2 selbstgenähte Kissen, 4 Wasserflaschen neben dem Bett, 1 Kindle mit ungefähr dreißig Büchern, 1 Regal voller mehrfach gelesener Bücher, 1 viel zu großer Kleiderhaufen auf dem Boden, 1 Paar Tigerhausschuhe, 1 Paar Schuhe mit Löchern in der Sohle, 1 Paar neue Schuhe, 1 Gigi, 1 Freizeitpass, 7 angeknabberte Kulis, 1 Klaviernachhilfeschülerin, 1 Job in der Bäckerei, 1 nachgemaltes Bild von Keith Haring, 1 orangene Wand, 1 orangenes Telephon, 1 Handy, 7 Lampen im Zimmer, 1 Vorliebe für die Zahl Sieben, 1 unfassbar langsamer Computer, 1 Bett voller Kissen und Krams, 1 überfüllter Wandschrank, 1 Liebe für Sonne, ein paar Erinnerungen: 1 Urlaub und 4 Monate in Istanbul, 1 Woche und diverse Wochenenden in Berlin, 1 Semester Analysis, 1 Urlaub am Gardasee.

erfüllung

Es ist Montag Nachmittag/Abend. Ich sitze am Computer, aus den Lautsprechern tönt Musik, die ich auswendig kenne. Vor den Fenstern ist es schwarz, aber ich schließe die Jalousien nicht; mir gefällt das Gefühl, die Dunkelheit dringe hinein und nehme das Zimmer ein.  Zuerst würden die Fensterrahmen von ihr verschluckt, dann der Vorsatz über der Heizung und dann läge der Raum vor ihr. Vor nichts würde sie Halt machen, nicht vor dem Bildschirm, der ausgeblichenes Licht entsendet, nicht vor der orangenen Lampe, die dafür sorgt, dass im Zimmer aufgenommene Bilder selbiges aussehen lassen wie eine Dunkelkammer, und nicht vor mir. Sie würde über meine Haut streichen, die Fingerkuppen liebkosen, durch die Haare wirbeln, die Brillengläser erblinden lassen und dann in meinen Körper einsickern. Ich stelle sie mir nicht kalt vor, auch nicht heiß. Mehr wie das Auslöschen einer Temperaturempfindsamkeit. Ich schließe die Augen und lasse dieses Gefühl in mich wandern. Erforsche, wie es mich einnimmt; Stück für Stück. Wie sich schließlich die Grenzen, die physikalisch diktiert sind, auflösen und den Geist entlassen in die Endlosigkeit des Unsichtbaren. Wenn nichts sichtbar ist, ist alles möglich. Ich kann vor meinem inneren Auge jede Landschaft, jede Stadtsilouette entstehen lassen. Ich kann die köstlichsten Speisen an meine Lippen legen, auf meiner Zunge zergehen lassen, jede Geschmacksnote voll auskosten. Ich kann Wind wie Finger über meine Arme und Augenlider und Schlüsselbeine streichen lassen. Ich kann Welten erschaffen und zu weniger als Staub zerfallen lassen, Ich kann die Augen öffnen und in das orangefarbene Licht gucken, in den Augenwinkeln noch die Dunkelheit, die immer da ist. Die wärmt und gleichzeitig Wärme nimmt. Die Möglichkeiten bietet dochnur unter der Bedingung der Isolation. Die sich zwar manchmal, doch längst nicht immer zurückdrängen lässt.

lotte

Heute mal etwas, das nicht mit meinem Alltag zu tun hat. Die Reaktion Lottes auf Werthers Tod. (Nichts für Menschen, die ‚Die Leiden des jungen Werther‘ nicht gelesen haben. Das ist übrigens von Goethe.)

 

Sie hatte es geahnt. Sie hatte es gewusst. In dem Moment, in dem sie Werther geküsst hatte. Das wurde ihr nun bewusst. Sie saß alleine in ihrer Kammer, kein Feuer im Kamin, nur mit einem dünnen Schlafgewand bekleidet. Unter die Tür hatte sie einen Keil geschoben, das Klopfen kam immer wieder. Irgendwann hörte sie es nicht mehr. Sie schaute auf ihre Hände. Die Hände, die die Werthers so oft gehalten, die ihm auf dem Klavier sein geliebtes Stück vorgespielt hatten. Die von Albert vorhin, oder war es gestern? so fest gehalten wurden, dass der Schmerz sie fast die Worte nicht hören ließ. Die Worte, die ihr ihre Schuld vor den Blick schoben, bis sie nichts mehr sah. Nur noch Dunkelheit und um sie herum einen metallenen Kreis. Sie schaute und schaute und sah nicht. Halb spürte sie, wie Albert sie hochhob und in ihr Zimmer trug. Dort kam sie kurz zu Bewusstsein und bat ihn, sie allein zu lassen, sie brauche Raum um zu denken. Als er aus der Tür war schob sie den Keil unter, zog sich aus und stieg ins Bett. Wie lange sie geschlafen hatte, wie lange sie nun schon wieder wach war, sie wusste es nicht. Sie sah, dass ihr Schlafgewand sich bewegte. Sah ihre Beine durch das dünne Leinen hindurchscheinen, dünn und weiß. Wie gebannt schaute sie die hellen Flächen an, bis sie vor ihren Augen wuchsen. Sie schienen aufzuquellen und gleichzeitig zu zusammenzufallen. Der Widerspruch verwirrte sie, er passte nicht in ihre Gedanken. Sie begann heftig zu atmen, doch die Luft war zu dick. Sie ging ans Fenster und presste die Wange gegen die kalte Glasscheibe. In ihrem Augenwinkel beobachtete sie den Tanz der Schneeflocken. Sie verfolgte einzelne, versuchte ihren Weg zum Boden festzulegen. Doch immer wieder sprang ihr Blick zwischen den weißen Punkten umher. Dieses Spiel beschäftigte ihren Geist, beruhigte den rasenden Fluss in ihren Gedanken. Irgendwann verschwammen die Bewegungen zu einer einzigen, wurden ruhiger und langsamer.

Sie erwachte davon, dass ihr Körper weh tat. Sie versuchte ihren Arm zu heben, doch die Knochen darin schienen aus glühendem Eisen zu sein. Dann stellte sie fest, dass jeder ihrer Knochen zu glühen schien. Und ihre Augen. Ihre Augen. Ihr fiel ein, dass sie sie öffnen könne. Für einen Moment stach sie gleißendes Licht, dann konnte sie den Raum erkennen, in dem sie sich befand. Es war die Küche. Man hatte ein Bett vor den großen Kamin gestellt. Die roten und gelben Flammen schlugen ihr entgegen. Rasch wandte sie den Kopf zur anderen Seite und sah Albert neben sich sitzen. In seinen Augen erkannte sie sich, ihre eigenen Gefühle. Aber auch Hoffnung. Blaue Hoffnung mit kleinen, grünen Flecken, die die schwarze Pupille umschloss. Blaugrün umgab sie, fing sie auf. Gab ihr ein wenig Hoffnung. Blaugrün floss ihr Atem, endlich wieder leichter.

gedankenentwicklung

Häufig habe ich das Gefühl, dass die Werte sich verschoben haben. Wenn ich mir die Menschen in meiner Umgebung so anschaue. Vor allem die meines Alters. All das, was jeder predigt, weil es ihm gepredigt wurde, wird nur behauptet eingehalten zu werden. Prinzipien, die in Märchen und Kinderbüchern vermittelt, in Büchern angehimmelt und in Filmen der Hauptfigur zugeschrieben werden, werden im normalen Alltag grünglich ignoriert.

  • Das Gefühl, dass Andere einem etwas wert seien, zu vermitteln: Das ist doch nicht wichtig.
  • Manchmal ein liebevolles oder nur freundliches Wort: Das macht jetzt auch keinen Unterschied, ob man sowas macht oder nicht.
  • Auf jemanden, der etwas länger braucht, warten: Warum? Er ist schließlich der langsame.
  • Einem Freund auch mal einen Gefallen machen: Er ist ja schließlich schon mein Freund. Ist doch unnötig.
  • Sich nach dem Befinden erkundigen, wenn jemand nicht zur Schule oder Arbeit erschien: Er kann ja selber Bescheid sagen, wenn es ihm nicht gut geht und er nicht kann.

Vielleicht habe ich ja einen anderen Blickwinkel, weil Freunde schon immer etwas nur sehr rar vorhandenes in meinem Leben waren, aber ich glaube, dass man seinen wichtigen Menschen zeigen sollte, wie lieb er einem ist. Nicht durch einen ‚Ich liebe dich!!! ♥‘-Pinnwandeintrag bei facebook, sondern durch Worte, durch kleine Aufmerksamkeiten. Dadurch, dass man aufeinander wartet. Dass man mal plötzlich vorbei kommt. Einfach nur, um einen Kaffee zu trinken, Kekse zu knabbern und sich Geschichten zu erzählen. Dadurch, dass man in schweren Momenten zur Seite steht.

Ich habe nichts gegen Freundschaften, die nicht so tief gehen. Natürlich kann man sich mit jemandem gut verstehen, ohne gleich jeden Gedanken teilen zu müssen. Doch furchtbar finde ich Menschen, die sich gute, oder sogar beste Freunde nennen und hinter dem Rücken übereinander die schlimmsten Dinge sagen. Das ist nicht nur verlogen sondern auch verachtenswert.

Ich schaue mich um und sehe fast nur noch so etwas. Freunde, die aneinander vorbei reden. Freunde, die nicht aufeinander achten. Freunde, die bei ehrlichen Worten verächtlich grinsen.

 

Ich habe ihr Grinsen satt. So sehr.

 

Ich will sagen können, was ich denke, ohne Angst vor Zurückweisung haben zu müssen. Vor ihrer vermeintlichen Überlegenheit, derer sie sich so sicher sind.

Ich will als Ich gemocht werden und nicht als jemand, der mir ähnelt, aber auch ihnen. Zu sehr ihnen.

Ich bin bereit, all das oben aufgelistete und mehr zu tun. Ich will es auch nicht zurückbekommen, weil es sich so gehört. Ich will es geschenkt bekommen. Ich will jemanden lächeln sehen, wenn ich ihm eine Freude mache  und will, dass dieses Lächeln jederzeit abrufbar ist.

Ich will dieses Lächeln doch auch nur einmal bei mir selber erleben.

Fühlen.

Es mir einprägen.Tief.

Und nicht vergessen.

 

 

So ein Lächeln ohne Zweifel.

 

 

 

erinnerungen und erwartungen

Morgen geht es los. Irgendwann am Nachmittag geht ein Flug von Hamburg nach Istanbul. Die Zeit weiß ich nicht, meine Mutter hat gebucht.

Dreieinhalb Stunden werden wir in der Luft sein. Nach der Landung gerade noch eben in Europa.

In der zweigeteilten Stadt, in dem zweigeteilten Land. Eigentlich ein tolles Bild für das Mädchen mit den zwei Namen, den zwei vereinten Natonalitäten.

Zweieinhalb Jahre war ich nicht in der Stadt, in der ich die besonderste Zeit meines noch nicht sehr lange dauernden Lebens verbrachte. Diese fast vier Monate, die aus einem stillen, unselbstbewussten Mädchen eines machten, das gerne auffällt. Das zeigt, dass es Dinge kann. Das auch mal nervtötend ist. Und auch sehr ichbezogen sein kann.

Ich werde Menschen wiedersehen. Klassenkameraden und die ehemalige Lehrerin meiner hiesigen Schule, die mir die Gastfamilie verschaffte. Die Familie selber wohnt wieder in Deutschland.

Ich werde Plätze wiedersehen. Besichtigungswürdige Orte kenne ich eigentlich kaum. Eher Plätze mit Bedeutung. Das wunderschöne Schulhaus. Den Platz am Sultan Ahmed mit freiem W-Lan. Das Restaurant, in dem man für 5 Lira einen großen Nudelteller und einen Softdrink bekommt. Den Platz unter der Moschee in Ortaköy, direkt am Wasser. Den Platz in Kabataş, an dem ich jeden Tag von der Straßenbahn in den Bus umstieg und gespannt war, wie lange ich auf den richtigen warten musste.

Ich werde die vollen Straßen wiedersehen. Die überfüllten Straßenbahnen, in denen man zu gewissen Zeiten nicht umfallen kann. Ich werde auf der İstiklal Caddesi in Taksim gehen und Geschäfte aneinandergereiht sehen. Geschäfte, die es auch hier und in jeder europäischen Stadt gibt und Geschäfte, die es nur dort gibt.

Ich werde das Essen von dort essen. Essen, das auf der Straße verkauft wird und Essen, dass man im Restaurant isst.

Ich werde durch die kleinen Gässchen gehen, die durch Hausbau entstanden und nicht durch Planung. Die manchmal nur zwei Meter breit sind oder plötzlich durch eine Treppe ein paar Meter tiefer weitergehen. In denen man zufällig einen kleinen Laden entdecken kann, der Schals und Caps verkauft. In denen ich mich einmal verlief und nur dadurch herausfand, indem ich nach unten ging, denn ich wusste, dass es zum Bospurus nach unten geht.

Ich werde in den Gewürzbasar in Eminönü gehen, und in den Kapalı Çarşı, in dem man allen Nippes kaufen kann. In dem ich mir das Armband mit dem schützenden auge machen ließ, während ich Apfeltee trank und mich mit zwei Freunden unterhielt.

Ich werde in die Schule gehen. In die Schule mit den Menschen, die mich so veränderten. Die mich Laura nannten, weil es da so viele Yasmins gibt. Die mich aufnahmen, obwohl sie mich nicht kannten. Die mich bis abends im Internat bleiben ließen, während sie es selber nur bis fünf Uhr nachmittags verlassen durften.

Vielleicht werde ich mir auch die Touristenstätten anschauen. Die blaue Moschee. Den Topkapı-Palast. Oder vielleicht werde ich ein Hammam besuchen. Das wären die neuen Dinge.

Ich bin ein bisschen nervös, weil ich nicht weiß, wie es wird. Ob es noch so ist, wie ich es in Erinnerung habe. Ob die Menschen sich genauso liebevoll an mich erinnern, wie ich mich an sie.

Aber das werde ich dann ja sehen.

Es wird bestimmt spannend.

zwei leben

Laura und Yasmin.

Es waren einmal zwei Mädchen namens Laura und Yasmin, die sich gleichzeitig sehr ähnelten und unterschieden.

Laura war ein fröhliches, hilfsbereites, offenes Mädchen, das als lustige Zeitgenössin, aber auch als verlässliche Freundin geschätzt wurde.

Yasmin war zurückhaltend und vor allem sehr einsam. In Gesellschaft anderer fiel sie hauptsächlich dadurch auf, dass sie still am Rande saß, den Blick gesenkt, mit traurigem Gesichtsausdruck, weil sie nicht dazu gehörte. Manchmal lachte sie natürlich, doch die Fröhlichkeit hielt nie lange an.

Laura konnte auch frech werden und vorlaute Sprüche hinaushauen.

Yasmin hatte Angst, für ihre Meinung ausgelacht zu werden, deshalb bildete sie sich gar nicht erst eine.

Irgendwann konnte es nicht mehr so weitergehen, deshalb verließen die beiden das Land. Sie wollten sich besser kennenlernen und ihre Gemeinsamkeiten entdecken.

Sie gingen für vier Monate weg von all denen, die sie trennten, zu Menschen, die sie nicht kannten.

Und langsam näherten sie sich einander an. Sie verstanden sich immer besser und als sie zurückkamen, war ihre Trennung kaum noch zu sehen. Manchmal schien es, als liefe dort Laura an der Stelle von Yasmin oder als schaute Yasmin dort prüfend umher, wo Laura einen blöden Witz gemacht hätte.

Inzwischen sind die beiden wieder so gut wie eins. Kaum noch sind sie getrennt.

Beide haben Eigenschaften der Anderen übernommen und sie kommen gut miteinander aus.

Manchmal unterscheidet sie sogar nur der Name, dann macht Yasmin derbe Späße und Laura führt ernste Gespräche.

Ich mag sie beide.

Das ist fast das Gleiche, wie zu sagen, ich mag mich.

die sache mit der hilfsbereitschaft

„Laura, kannst du mir das mal erklären?“ – „Ich verstehe das nicht. Herr/Frau … hat das voll scheiße erklärt. Kannst du mir nochmal sagen, wie das geht?“ – „Lauraaaaa, du kannst doch voll gut Mathe/Englisch/Deutsch… Wie funktioniert das hier?/Ist das so richtig übersetzt?/Kannst du meinen Aufsatz mal auf Fehler durchlesen?“

 

„Klar, wenn du mir auch bei irgendetwas hilfst. Und vielleicht auch mal BITTE sagst!!“

Ich helfe gerne. Wenn der andere es zu schätzen weiß. Wenn ich danach in seinem verstehenden Gesicht ein Leuchten sehe. Und ehrliche Dankbarkeit.

Ich bin von der Natur netterweise mit der Fähigkeit ausgestattet worden, mir schnell Neues verständlich zu machen, ohne viel nachdenken zu müssen. Dafür bin ich sehr dankbar und eigentlich (!) revangiere ich mich auch ohne Probleme dafür, indem ich anderen helfe.

Erklären kann ich gut. Den Gedankengang anderer aufgreifen, in ihrer Sprache denken. Und verständlich machen.

Nur gibt es auch die Menschen, die das ausnutzen. Die gibt es ja immer. Sie gucken einen nicht an, sprechen nie mit einem und sind nie einfach aus Nettigkeit freundlich. Doch wenn sie was brauchen werden sie plötzlich lieb und nett. Kommen schmeichelnd und lächelnd daher. Und haben diesen ganz besonderen Tonfall, der mich direkt in ziemliche Aggression versetzt.

Was denken sich diese Menschen? Dass man so dankbar dafür ist, wenn sie mit einem reden, dass man ihnen jeden Wunsch von den Augen abliest? Dass sie natürlich etwas verlangen können, ohne diese Leistung jemals auch nur ansatzweise auszugleichen?

Mir wäre das sehr unangenehm, dieses Nehmen ohne zu geben.

Es geht mir keinesfalls darum, dass ich irgendetwas Materielles erwarte. Es geht mir darum, dass Menschen, die mir oft genug zeigen, dass sie mich nicht mögen etwas von mir verlangen.

Damit stellen sie sich über mich.

Das ist glaube ich mein eigentliches Problem. Diese Selbstverständlichkeit, mit der sie die Hilfe erwarten.

Diese Menschen sind meistens auch die, die beim Erklären am wenigsten mitdenken. Sich jeden Schritt fünfmal auseinanderklavieren lassen und glauben, wenn man ihnen das Wissen nur richtig in den Kopf stopft, dass es dann auch da bleibt.

Selber denken? Nie gehört, geschweigedenn getan.

Und wenn man dann mal „Nein.“ sagt, nichteinmal bestimmt oder gar verletzend, dann wechselt der Blick schlagartig. Von „Ach, ich bin ja soo nett.“ zu „Was bildest du dir eigentlich ein, das abzulehnen? Hältst du dich für etwas Besseres, oder was?“.

Nein, das warst du, würde ich gerne mal sagen. Aber das wäre ja arrogant. Dazu bin ich nicht in der Position. Nicht in deren Augen.

 

Deshalb übe ich das mit dem „Nein“ noch ein bisschen. Soll ja keiner verletzt werden.

flicken

Das Erste, woran ich mich erinnere ist ein Abschied. Da war ich ungefähr 2. Meine Eltern, wie sie das Haus meiner Großeltern verlassen. Sie werden wiederkommen, aber in der Erinnerung sehe ich, wie sie ins Auto einsteigen. BMW Z1. Rot, glaube ich. Nur ein Standbild.

Das Nächste ist glaube ich mit 5. Mit der Familie in Österreich. Ein rot-weiß gemusterter Beutel mit Brötchen. Jeden Morgen vor der Haustür. Eine Seilbahn über einen Abgrund. So eine wie auf dem Spielplatz. Die Angst, dass ich am anderen Ende so hoch schlage, dass ich herunterfalle. Vielleicht war da auch kein Abgrund. Aber ich glaube schon. Rennsimulatoren, die ich angeguckt, aber nicht ausprobiert habe. Mein Vater, der sehr schnell die Serpentinen rauf- und runterfuhr. Zu schnell. Stechende Ohrenschmerzen.

Vorstellungsgespräch für die Schule. M. aus meiner Kindergartengruppe ist auch da. Wir sollen durch das falsche Ende eines Fernrohres gucken, balancieren und Häuser malen. (Ich war wohl die Erste, die ein Haus mit Regenrinne gemalt hatte, sagt man mir immer.)

Von der Einschulung weiß ich nur noch, dass ich in der Klasse keinen Platz am Fenster bekommen hatte.

Zeitlich nicht einzuordnende Eindrücke: Klassenlehrer lässt uns einen Stein in den Mund oder die Hände nehmen, wenn wir reden oder rumspielen. Er lässt Linkshänder mit rechts schreiben. Er ist bei uns zu Besuch; ich umarme ihn stürmisch.

5. Klasse: F. sagt zu mir, ich sei „bekannt wie ein bunter Hund“. Warum weiß ich nicht.

6. Klasse: Klassenfahrt. Hallig Hooge. Viele Eletrozäune. Wenn man sie mit einem Grashalm berührt, kribbelt das so schön. (Vor ein paar Wochen erfahren: Klassenlehrer habe Vermutung geäußert, ich sei „nicht ganz normal“.) Fußballspiel gegen andere Klasse. Ich bin das einzige Mädchen, das mitspielt. Den Ball berühre ich zwei Mal.

7. Klasse: Ich lasse mich aus Spaß Yasmin nennen. Alle übernehmen es. Laura R. gefällt das, jetzt wird sie nicht mehr Laura R. genannt, sondern Laura. Klassenfahrt. Arbeiten im Wald in der Gruppe. Sonst viel allein. J. liest mein Tagebuch und ist sauer auf mich. Ich erzähle irgendjemandem, dass sich J. und S. Busenbilder in der Bravo angucken. Daraus wird das Gerücht, sie schauten Pornos. Abschlussparty in der Holzhütte. Ich entdecke beim Partnertanz das Bedürfnis festgehalten zu werden.

8. Klasse. Klassenfahrt ins Altmühltal. Zelten. Ich teile mir ein Zelt mit A. Keiner will mit mir in ein Ruderboot. (Neuer) Klassenlehrer hält Vortrag über Gemeinschaft. Radtour. Weil mein Fahrrad einen Platten hat spalte ich mich mit A. und einer Lehrerin von der Gruppe ab. A. und ich fahren mit Lehrerins Fahrrad vor und genießen den Ausblick ins Tal und die abfallenden Straßen den Berg hinunter. Ein paar Tage später ist A. plötzlich nur noch mit S., F., und O. zusammen. Sie sagt mir, sie wolle „besser in die Klassengemeinschaft kommen“.

9. Klasse: Landbaupraktikum steht an. Zu zweit drei Wochen auf einem Bauernhof. Bei der Aufteilung Komplikationen. Keiner will mit mir fahren. F. sagt „Tut mir leid, das zu sagen, aber das einzige Problem hier bist du.“ zu mir. Schließlich erklärt L. sich bereit. Landbaupraktikum. Schöne drei Wochen auf einem Demeterhof. Es sind noch drei Mädchen aus Hagen da. Zurück in der Schule wendet L. sich wieder ab. Bin inzwischen in einer Tennisgruppe mit M., T. und J. Freunde mich mit ihnen an. Wir gehen mit dem Trainer ins Kino.

Sonstiges während 7.-9. Klasse: Schulpausen, alleine am Tisch sitzend verbracht. Manchmal geweint. Kurzzeitiges Mitleid erregt. Zuhause gesagt, mir gehe es gut. Mutter erzählt mir, Vater habe gesagt, ich solle mich „doch mal mit anderen treffen und nicht immer nur lesen oder Klavier spielen“. Orchester. Dort bin ich nicht still, sondern die Lustige. Die alle nett finden. Sonst kaum Erinnerungen. Ziemlich gut verdrängt. Ist wahrscheinlich besser so.

Ende Februar bis Ende März 9. Klasse: Darf nach Istanbul. Neuanfang. Offene Mitschüler. Neue Freunde. Veränderung. Teilweise Glück. Wunderschöne Stadt. Jeden Tag mit der Straßenbahn nach Hause. Zweimal mit dem Taxi. Dreißig Minuten Fahrt, sprachlich sehr beschränkte aber sehr freundlich Gespräche mit dem Taxifahrer, etwas mehr als 13 Lira (ca. 6,50 Euro). Jeden Tag in dem kleinen Kiosk ein Magnum kaufen. Der Verkäufer hält mich für einheimisch. Als er mich anspricht hebe ich hilflos die Schultern und gucke ihn mit großen Augen an. Es wird wärmer. Ich beginne kurze Hosen und Röcke zu tragen. Klassenausflug zur Büyük Ada. Mit zwei Freunden essen und in den Kapali Carsi gehen. Armbänder für die Tennismenschen kaufen. Die zwei letzten Schulwochen. Kein Unterricht mehr, dafür Hitze. Ich weine fast am letzten Schultag. Mit Mutter im Taxi zum Flughafen fahren. Auf dem Weg die Schule sehen und weinen. Direkt am Tag danach mit Rock und Top in die Schule gehen, lachen, Konversation betreiben und die erstaunten Gesichter genießen. Mit wird gesagt, ich hätte mich sehr verändert.

Ende 9. Klasse: Klassenfest auf Wiese. L. von Landbaupraktikum sagt mir, sie habe endlich Kontakt mit den Jungs bekommen. Mädchenfreundschaft scheint ihr jetzt unwichtig geworden zu sein. Vielleicht auch nur meine. Tennisfreundschaft wächst immer mehr. Vor allem mit M. Gehe zu ihrem Schulsommerfest und lerne ihre Klasse kennen.

10. Klasse: Der Stand in der Klasse stabilisiert sich. Die Tennisfreundschaft wächst immer noch.

11. Klasse: Ich bin zwar manchmal etwas seltsam, aber akzeptiert. Habe Freunde in der Klasse und außerhalb der Klasse.

12. Klasse: Fange in den Sommerferien davor mit twitter an. Finde Menschen, die mich dafür mögen, wer ich bin und dass ich sage, was ich denke. Das stärkt das Selbstbewusstsein im RL deutlich. Twittersprüche kommen dort allerdings nicht so gut an. Über Internetfreundschaften wird der Kopf geschüttelt. „Unverständlich, gefährlich“. Ich freue mich über diese Bereicherung meines Lebens. Sie macht mir Prioritäten deutlicher und lässt mich meine Meinung sasgen. Auf der anderen Seite werde ich lebendiger, manchmal lächele ich still und leise vor mich hin. Die anderen müssen sich halt damit abfinden, wie ich bin. Es gibt Menschen, die mich dafür mögen, wer ich bin und was ich denke. Die Freundschaft mit M. kühlt deutlich ab. Leider. Die mit T. wächst. Das neue Schuljahr ist noch nicht alt aber interessant. Ich freue mich auf den Matheleistungskurs. Der Deutschgrundkurs gibt schon genug Hausaufgaben.

Ich bin fröhlich die meiste Zeit. Ich umarme meine Mutter liebevoll.

Es ist endlich mal gut.

Sonnige Grüße,
Laura.